Helden, auch gefallene
Wie so oft kann ich nicht schlafen. In den stressigen Zeiten vor dem Burnout waren es die unerledigten oder kommenden Aufgaben des nächsten Tages, die die Gelegenheit nutzten, sich genau dann zu melden, wenn sie sicher waren, meine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Auf Gefühlsebene stritten sie sich als Sorge vor fehlender Anerkennung und in-Ungnade-fallen beim Chief und damit ewiger Verdammnis mit den Ängsten vor Krebs und gesundheitlichem Siechtum um die Vorherrschaft. Danach war es die ungewisse Zukunft, die mich wachhielt, die Befürchtungen, dass die zarten Pflänzchen unserer Zukunftspläne wieder verdorren würden, bevor sich auch nur eine Blüte zeigt. Es sind tatsächlich so Gedanken wie: „wo ist eigentlich die nächste Ausgabe der Tafel?“, die sich im Hirn breit machen. Nee nee, Junge, so einfach kommst Du nicht davon, Deine Sorgen und Ängste brauchen ungeteilte Aufmerksamkeit.
Das kann ganz schön hartnäckig sein, doch seitdem ich in der Gruppentherapie etwas über Achtsamkeit und Selbstmitgefühl gelernt habe, dürfen sich auch vermeintlich völlig irrelevante und vordergründig unnütze Gedanken darin versuchen, meine Aufmerksamkeit zu erheischen und mich wach halten. Ob das wegen des anhaltenden Schlafdefizites gesundheitlich besser ist, wird sich zeigen. Für die geistige Gesundheit ist es allemal gut. Heute morgen kamen mir Vorbilder in den Sinn, die Geschichte im allgemeinen und die Radsportlegenden im besonderen defilierten an meinem inneren Auge vorbei. Wir Jungs haben es da eigentlich sehr leicht. Die kommerziell erfolgreichen Geschichtsschreiber waren Männer, Frauen waren per religiösem und gesellschaftlichem Dekret nicht so viel wert. Wer seine Geschichte verkaufen wollte, schrieb über Männer, die tolle Dinge taten. Wir wuchsen auf mit dem Wagemut eines Charles Lindbergh, goutieren heutzutage immer noch die Erfindung des Carl Benz und lauschen den Klängen von Schubert, wenn auch nicht so wirklich gerne. Dass es eine Amelia Earnhardt gab, die noch tollkühner flog, dass Berta Benz der erste Mensch der Welt war, der mutig eine Fahrt im Automobil zurücklegte und die grosse Automarke nach der Tochter eines Kunden benannt ist, der Herr Schubert wie fast alle seine Kollegen eine Ghostwriterin, seine Frau, hatte, ging dagegen unter. Ich sehe, wie meine Töchter darüber irritiert sind, gar richtig darunter leiden, dass es „offiziell“ so wenige Heldinnen gibt, die ihnen als Vorbild dienen. Das aber ist wieder ein anderer Exkurs. Eher so für den Herbst, wenn man wegen des schlechteren Wetter nicht so recht weiss, auf wen man sauer sein soll.
Es wird jetzt etwas Off-Topic, aber ich kann meinem halbschlafendes Hirn nicht befehlen, was es zu denken hat. Jedenfalls wurde die ganze Gedankenkette und deren unbewusste Verarbeitung im Aufwachmodus dadurch ausgelöst, dass ich am Tag zuvor mal wieder den Feldberg erklomm. Also in echt. Gleichmässige Steigung, regelmässige Atmung, mittlere Herzfrequenz, nullkommanull fahrtechnische Herausforderung durch die Strasse, 10 km mit leicht gesenktem Kopf immer 20 cm links der durchgehenden weissen Begrenzungslinie auf immer gleichem Asphalt: das erzeugt kreative Langeweile und lässt die Gedanken schweifen. Zum Beispiel diese: „warum mache ich das hier eigentlich und wer zum Teufel hat mich dazu animiert, ausgerechnet aufs Rennrad zu steigen?“
Die Radsportwelt war lange eine Männerdomäne und so konnte ich mir ohne feministische Gewissenbisse durch meine jeweiligen Lebensbegleiterin meine Helden aussuchen. Miguel Indurain war so einer, beziehungsweise sein Fahrstil. Ihn selbst fand ich eher langweilig. Aber dass er mit unendlicher Kraft fast jeden Berg auf dem großen Blatt trat und dabei ruhig im Sattel blieb, während sich die anderen regelrecht abhampelten, brannte sich regelrecht in meine Beine ein. So bin ich als Jugendlicher auch gefahren und habe die Mitfahrer auf dem Weg in die Schule mit der niedrigen Trittfrequenz irritiert. Sie wollten immer meine Schaltung reparieren. Doch es nahte die Revolution: ich habe live am Fernseher erlebt, wie der König vom Thron gestürzt wurde. Piraten eroberten das Peloton, Auftritt Marco Pantani, von seinen Gegnern als „Elefantino“ verunglimpft, von seinen Fans „Il Pirato“ getauft. Der machte beim Giro d´Italia das, was man so eigentlich macht, wenn man Fahrradtechnik montiert hat: schaltete an einer Rampe zurück, stellte sich in die Pedale und hängte Indurain ab. Der hatte wohl völlig vergessen, wie man schaltet, war über diese Majestätsbeleidigung empört und kam geschlagen ins Ziel. Er sollte sich davon nie wieder erholen und – ich glaube, das hat ihm den letzten Schlag versetzt und ihn zum Beenden seiner Karriere gebracht – verlor seine Vorbildfunktion für mich. Er fuhr halt arg oldschool.
Dem Marco Pantani zuzusehen, wie er in Alpe d´Huez bergauf stürmte und den Mont Ventoux bezwang, das war ein Genuss. Ich fieberte mit, versuchte den Moment der Attacke vorherzusehen. Der Mann war irre im positiven Sinne, ein Maniac. Leider war auch was anderes positiv, und zwar seine Dopingprobe. Mit dem Sturz in die sportliche Bedeutungslosigkeit und dem, was es an Ängsten, Trauer und Wut mit sich bringt, kam nicht mehr klar. Sein einsamer Drogentod erschütterte mich sehr und die extrem negative Berichterstattung hatte er definitiv nicht verdient.
Als nächstes Team Telekom mit dem aufgehenden Stern Jan Ulrich. Wie er seinem Captain Bjarne Riis zum Sieg verhalf, um sich ein Jahr später selbst die Krone der Tour aufzusetzen, das war einfach grosses Kino. Was für eine Radbeherrschung, was für eine Kraft, die niemand sonst so effektiv in Vortrieb umsetzen konnte. Mich beeindruckte dazu noch die geschlossene Teamleistung. Hier war ein Team, was wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Ganz Deutschland trug Magenta, leider auch die lächerlichen „Deppekäppche“. Es war eine unheilige Allianz. Wie wir heute wissen, wurde das Team Telekom vor allem durch die Omerta, das Gesetz des Schweigens, wie die Mafia zusammengeschweisst. Jan Ulrich fiel sehr, sehr tief und ich bin ehrlich froh darüber, dass er einen Weg zurück ins Leben gefunden hat. Ich gönne es ihm von Herzen. Die Team-Telekom-Mafia wurde nie so wirklich zur Rechenschaft darüber gezogen, was sie aus dem Sport machte, es wurden immer nur Einzelne in das Blame Game hineingezogen. Hier wurde das Dopingssystem endgültig systematisiert. Trotzdem, als sie noch fuhren und wir an Vitamine und Tee glauben wollten, waren die Fahrer sympathische Vorbilder.
Dann kam Lance, der Ausserirdische. Er hievte alles auf ein nie da gewesenes Niveau. Alles! Ich las seine Biografie, bewunderte, wie er den Krebs besiegte. Mit welchem Willen zum Leben er aufs Rad stieg, und wenn es nur eine Handvoll Kilometer waren, die er nach OP und Chemo schaffte. Er brauchte das Lebenselixier Radfahren und die Sportwelt brauchte ihn. Man vergisst auch gerne, wie liebevoll er in dem Buch den Menschen dankte, die ihm durch diese Zeiten halfen und wie er „Ride against Cancer“ ins Leben rief. Denn als er wieder gesundet auf dem Rad sass und Patron der Tour war, war er ganz anders. Ein strenger Herrscher, ein Diktator, ein Mobber, einer, der unendlich viele Pychospielchen beherrschte. Ein echtes Arschloch und Kind seiner Zeit. Und doch war da was, was sich als Vorbild eignete: er brachte sein Team dazu, sich akribisch vorzubereiten. Sie fuhren im Winter mehrfach alle Anstiege ab, erstellten Roadbooks mit den Stellen, die sich zum Attackieren oder Regenerieren eignen. Ich war echt baff, dass die anderen das nicht machten. Im Gegenteil, Jan Ulrich und andere wurden – nicht ganz zu unrecht – jeden Winter als Moppel geschmäht. Die schwarze Managementseele in mir wurde durch Lance Armstrong befriedigt. Sieg durch Vorbereitung, Zeitmanagement und unbedingten Willen zum Erfolg. Und Psychotricks seien legitim.
Allerdings hätte ich ihn wohl nie beachtet, wenn er nicht den für mich seinerzeit passenden Fahrstil gehabt hätte. Statt mit purer Kraft die Berge hochzutreten, war die hohe Trittfrequenz das Mittel zum Sieg. Ich prägte mir ein, wie Lance die Berge hochfuhr und machte es nach. Zu der Zeit war ich fast nur mit dem Mountainbike unterwegs, in meinem Fuhrpark waren nur damit hohe Frequenzen möglich, das Rennrad war mit der Heldenkurbel bestückt. Und siehe da, ich kam fitter und schneller auf dem Feldberg an. Ja, auch die Mountainbikerouten führen immer bergauf auf den Feldberg. Dafür dann 15 km Downhill auf Trails und Schotter als Belohnung, für die ich immer fit genug blieb, nachdem ich Oben war.
Auch Lance fiel, wenn auch nicht ganz so tief. Er wirkte eher überrascht, dass die Welt jahrelang glauben wollte, dass jemand, dessen Hoden vom Krebs zerstört wurden, als junger Mann ohne von aussen zugeführtes Testosteron Spitzenleistung erbrachte und Kinder zeugte. Nachdem er Oprah ein paar Tränen vorgeheuchelt hatte und ihm die 7 Toursiege aberkannt wurden, ging sein Leben einfach weiter. Auch in der Öffentlichkeit. Wie man hört, hat er sogar ehemalige Konkurrenten unterstützt, damit sie wieder zurück ins Leben fanden.
Alles Doper und damit alles Betrüger, wie geht das eigentlich zusammen mit der Vorbildfunktion? Diese Frage beschäftigte mich heute morgen noch im Bett liegend auch. In der Geschichte des Radsports wurde immer gedopt. Sich einen Vorteil verschaffen und damit zu betrügen, ist Teil des Systems, das müssen wir leider tolerieren, wenn auch nicht akzeptieren. Die Geschichte zeigt aber auch, dass zu bestimmten Zeiten alle auf die gleiche Idee kamen und sie damit mehr oder weniger erfolgreich waren. Damit wurden die Leistungen irgendwie doch wieder vergleichbar, ohne dass ich es gut heissen würde. Wirklich schlimm war die Phase, als gewissenlose Mediziner und gierige Sponsoren tatsächlich auf die Wünsche der medizinischen Laien, der überehrgeizigen Sportler nämlich, eingingen und als gefahrlos verkauften, was manchen umbrachte. Letzten Endes entstand ein System, dem sich kaum einer entziehen konnte und auch nicht entziehen wollte. Doch die Berge wurden dadurch nicht niedriger, die Hitze und Kälte nicht weniger, die Schmerzen wurden zwar betäubt, waren aber nicht weg, das Leiden ging weiter, sogar auf höherem oder anderem Niveau. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Angst, entdeckt und damit geächtet zu werden, oder davor, einfach tot umzufallen, wirklich beflügelt. Wir reden von jungen Männern im ersten Drittel des Lebens, vergesst das nicht. Und so finde ich, dass man sie für ihren Fahrstil, ihr Verhalten im und ausserhalb des Feldes, ihre taktischen Züge, ihre Fähigkeit, zu Leiden und dabei zu Lächeln, auch in der Nachbetrachtung noch bewundern kann.
Und auch der alte Mann hat heute wieder ein junges Vorbild. Der Tadej Pogacar will einfach nur Rad fahren. Ihm sieht man die Freude daran einfach an, es strahlt aus jeder Pore. Auch die Freude am Gewinnen. Seine Attacken aus dem Bauch heraus sind grandios. Gerade deshalb, weil sie oft etwas taktisch unklug scheinen. Am meisten aber beeindruckt mich, wie er im Etappenziel sofort Mitstreitern und Konkurrenten zu deren Leistungen gratuliert. Egal, ob er sie geschlagen hat, geschlagen wurde, sie selbst den Berg hochgezogen hat oder von ihnen gezogen wurde. Das hat was vom grossen Sportsmann und damit ist er ein Vorbild. Hoffentlich bricht er die Tradition des Radsports, die der gefallenen Helden.