Misanthropischer Philanthrop

Dasletztedrittel/ September 13, 2023/ Therapie, Veränderungen/ 0Kommentare

Die beste Lebensgefährtin von allen schickte mir neulich ein Meme. Für die Älteren von uns: in diesem Neuland Internet verbringen Menschen viel Zeit damit, alte Filmschnipsel oder Bilder neu zusammenzumixen, um eine Botschaft über die moderne Welt zu verbreiten. In diesem Meme also fragte Ingrid Bergmann den Gary Grant – so ganz jung kann der Ersteller des Memes nicht gewesen sein – 🙂 ) „What makes life so difficult?“ Antwort: „people!“. Oh Jesus, eine ganz kurze Scene, 6 Worte, und mein ganzes Dilemma mit der Gesellschaft und dem Leben um mich herum war beschrieben.

Ja, people, Leute, Menschen können mir das Leben schon ganz schön schwer machen. Die Menschheit zog – wie wir alle wissen – etwa 2 Millionen Jahre lang mordend und alles Niederbrennend durch die dabei entstandenen Steppen und hatte nix besseres zu tun als sich gegenseitig die Frauen zu klauen und umzubringen. Um das Überleben einer Sippe zu gewährleisten wurden die Stärksten und Skrupellosesten die Anführer und die Schwachen aussortiert. Wahrscheinlich redeten die Starken den Schwachen ein, nur sie könnten den Säbelzahntiger besiegen. Und die Schwachen bekamen nichts zu Essen und durften sich auch bei sonst allem hinten anstellen, so hatte es Darwin postuliert. Erst vor etwa 7000 Jahren, also kurz vor Mitternacht, wenn die Menschheitsgeschichte an einem Tag geschehen wäre, entdeckte die Menschheit die gesundheits- und damit überlebensfördernde Wirkung von Getreide und begann mit der Zivilisation.

Es gab genug Essen für alle, Frauen waren in Sicherheit, das Geld wurde erfunden, Wirtschaftssysteme entstanden, der Glaube wurde in die richtigen Bahnen geleitet, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie….. was war die Zivilisation doch eine tolle Sache. Und wenn es mal nicht ganz so toll war, dann waren nur unsere Steinzeitgene Schuld. Ist ja nur die dünne Schicht der Zivilisation, die uns davon abhält, wieder übereinander herzufallen. Das wissen wir alle, oder?

So dachte ich auch über „people“. Wenn also wieder jemand versucht, mich beim Überholen auf dem Fahrrad umzubringen, nur weil er oder sie ein paar Sekunden vorher an der roten Ampel stehen bleiben will: sind ja nur 7000 Jahre Zivilisation! Oder sich in der U-Bahn, beim Bäcker oder sonstwo vordrängelt: dito, was sind schon 7000 gegen 2 Millionen Jahre. Da ich auch empfinde, dass die Gesellschaft immer rücksichtsloser und immer häufiger das Primat des Stärkeren gilt, habe ich den Eindruck, dass wir uns wieder zurück entwickeln. Wir werden wieder Primaten, schönes Wortspiel. Mir ist das im Alltag mithin zu viel und so werde ich peu a peu zum Misanthropen. Lass ´ mer mei Ruh´, wie wir Hessen so sagen pflegen.

Aber vom Misanthropen zum Grantler, Meckerer, Nörgler, Wutbürger ist der Weg nicht weit. Und dann gehts weiter zu Einsamkeit, Depression, ewiges Sterben. Klingt drastisch, aber konsequent, oder?

Will ich das? Die Menschen und alles, was sie verursachen – Egoismus, Extremismus, Populismus, also alle diese „-ismen“ oder heisst es „-ismusse“ ? sowie Kriege, Umweltzerstörung, Klimawandel, Ausrottung, Krieg – kann ich nicht ändern. Muss und will sie auch nicht akzeptieren. Und all die kleinen Dinge im Alltag – nicht Ausweichen auf dem Gehweg, herumliegende Kippen, schlechtes Parfüm, schräge Blicke, lautes Handy und 1000 weitere Sachen, die an den Nerven sägen- , auch nicht. Hilfe, Menschen………..

Manchmal – andere sagen, oft – musste ich meine Sichtweise ändern. Da war so ein Buch in den Bestsellerlisten, das heisst „im Grunde gut“. Menschen…… gut…..haha! Na gut, der eBook Reader war leer gelesen, dieses Internet Neuland und die nächste Buchhandlung weit. Und das Buch war……

….. Mind changing! Der holländische Psychologe Rutger Bregman stellt dar, dass die Menschheit 2 Millionen Jahre lang nur überleben konnte, weil die Menschen kooperierten. Im Stamm war das Überleben aller wichtig, wer anderen etwas wegnahm oder gar aggressiv gegenüber anderen war, wurde schnell verstossen. Stämme kooperierten untereinander und trieben sogar Handel. Wie man heute weiss, waren Männer und Frauen gleichberechtigt, es gab nicht so grosse körperliche Unterschiede wie heutzutage. Dann kam der Getreideanbau und mit ihm im Gefolge Besitz, zunächst Landbesitz. Der Stärkste und Skrupelloseste setzte sich durch und Frauen wurden auf ihre Funktion des Gebärens zurückgesetzt. Es war eine Art Evolution, denn wenn es genug Nahrung gibt, kann sich eine Art häufiger reproduzieren. Mit dem Besitz kamen auch Geld, Zerstreuung, Sicherheitsgedanken und vieles mehr, kurz alles, was wir heute Zivilisation nennen. Der dickste Bauer bestimmte fortan über das Wohl und Wehe der Gesellschaft und nicht mehr die Zusammenarbeit einigermassen gleichberechtigter Menschen. Man nannte das Zivilisation.

Um diese These zu untermauern, wurden viele psychologische Experimente neu betrachtet. Zum Glück dokumentieren Wissenschaftler oft sehr genau, während Veröffentlichungen laut Rutger Bregman vorsichtig ausgedrückt eher kommerziell zeitgeistigen Charakter tragen. So gab es ein sehr berühmtes Experiment mit einer Gruppe Studenten, in der die eine Hälfte Wärter, die andere Hälfte Gefängnisinsassen sein sollten. Es gab keine Regeln, keine Verbote, keine Kontrolle. Das Experiment wurde frühzeitig abgebrochen, da die „Wärter“ gegenüber den „Gefangenen“ gewalttätig wurden und diese als Menschen 2.Klasse ansahen. Dieses Experiment wurde dann als Beleg dafür veröffentlicht, dass die Menschen, wenn sie nicht durch Regeln gebremst werden, aufeinander losgehen. Es verkaufte sich prächtig und ist immer noch in Lehrbüchern zu finden.

Die Protokolle und Aussagen der Beteiligten stellen das anders dar. Am Anfang geschah nämlich: genau nichts. Die Studenten spielten ihre Rollen und fanden einen Modus Vivendi, sie kooperierten. Die Tage plätscherten friedvoll dahin. Das war langweilig und schlecht zu verkaufen. Also wurden die „Wärter“ angestachelt, ungerecht zu sein und willkürlich Gewalt anzuwenden. Ergebnis? Erschreckende Unmenschlichkeit, kommerzieller Erfolg und falsche Lehrbücher.

Erinnert sich jemand an die erste Big Brother Show? Sympathische Menschen, die eine gute Zeit verbrachten und sich gegenseitig respektierten. Stinklangweilig. Erst als sie durch ein System von Bestrafung und Belohnung angestachelt wurden, kam Leben in die Bude.

Bei dieser Betrachtung keimte in mir ein kleines philanthropisches Pflänzchen. Wenn also das, was wir so Zivilisation nennen, in Wirklichkeit ein System von Macht und Machtausübung ist, mit Begleiterscheinungen von Geld, Gier, Bestrafung und Belohnung, Wettbewerb, Angstmache, Wut und so weiter und so fort, dann fördert dieses System die Verhaltensweisen, die uns das Leben mit anderen so schwer machen.

Mein kleines philanthropisches Pflänzchen gibt mir die Chance. Zivilisation abstreifen! Ok, was jetzt kommt, sind alles Binsenweisheiten: Teilen, lieb sein, Respekt zeigen, Rücksicht nehmen. Was für mich aber neu an der „im Grunde gut“- Betrachtungsweise ist, ist die Erkenntnis, dass wir uns damit auf die Ebene „weniger statt mehr Zivilisation“ begeben. Und damit leichter Zugang zu anderen Menschen finden. Wir müssen uns nichts Neues beibringen oder uns am Riemen reissen oder was auch immer, wir müssen nur so sein, wie wir eigentlich sind. Das sollte doch gehen. Philanthropie rulez!

Na gut, schlechtes Parfüm und zu knapp überholende SUV- Menschen kann ich dafür immer noch nicht leiden. Aber ich bemühe mich……. ein bisschen……..

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