Angst

Dasletztedrittel/ August 29, 2023/ Ängste/ 0Kommentare

Angst funktioniert. Ich kann gar nicht anders, ich bin Mensch. Angst ist eines der Gefühle, die die Menschen seit jeher fühlen und das wir alle kennen. Ohne Ausnahme. Angst ist Urzeit und damit ein nützliches Gefühl. Angst ruft eine körperliche Reaktion hervor: Stress. Dieser Stress lässt mich auf Gefahr fokussieren und reagieren. Urzeitlich reagiere ich mit Kampf, Flucht oder tot stellen.

Das hat alles mal recht gut funktioniert. Die Menschen haben sich dem Säbelzahntiger gestellt, sind weggelaufen oder haben sich so lange hingelegt, bis er das Interesse an ihnen verloren hat. Muss überwiegend funktioniert haben, sonst wären wir ausgestorben, logisch. Gefahr vorbei, Stress vorbei, wann gibt es was zu Essen?

Und heute? In der komplexen Menschenwelt sind Gefahren und damit Ängste diffuser, unkonkreter, indirekter und damit schlechter einzukreisen. Wir haben es – wie Dr. Leon Winterschied schreibt – überwiegend mit den kleinen Schwestern der Angst, den Sorgen zu tun. Und was bin ich selbst besorgt! Ich sorge mich darum, ob mein Einkommen reicht, ich der Arbeitswelt genüge, ein guter Vater, guter Partner bin, den Müll richtig trenne, meine Rente reicht und so weiter und so fort, eine einzige Sorgenkette. In der Sorgen immer neue Sorgen hervorbringen. Ich lebe im „was wäre, wenn“ – Modus. Kämpfen, Fliehen oder tot stellen funktioniert nicht so wie von der Natur vorgesehen. Angst vergeht trotzdem irgendwann – Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Sorgen bleiben. Und können dann wieder zu Angst werden. Ein Kreislauf.

Die Angstmache hat Methode. Sie war und ist Erziehungsmittel von Eltern und Schule in der Leistungsgesellschaft. Hier wurde ich das erste Mal mit der Angst vor dem sozialen Abstieg konfrontiert. Kämpfen hiess nach gesellschaftlicher Lesart: besser gut bezahlter Bullshitjob als schlecht bezahlter Job mit Sinn. Besser schlechtes Abi als nur Handwerker sein – was haben sich die Zeiten geändert! Flucht war keine Option und wer sich tot stellte, konnte gleich Stifte montieren. Diese Angst blieb auch später meine Begleiterin. Jobverlust = sozialer Abstieg. Eigentlich war alles sozialer Abstieg. Wer nicht genügt, steigt ab.

Und manchmal könnte ich glauben, Angstmache sei eine Regierungsform. Wer Nachrichten sieht, sieht Angst: Krieg, Flucht, Migration, Religion, Diktatur, Seuchen, Klima, Wetter, Kriminalität, Mord und Totschlag, Wirtschaftskrise, Arbeitsplätze, sozialer Abstieg – da ist er wieder. Diesmal als Gesellschaftsform. Und da viele dieser Ängste unseren Planeten betreffen und ich nicht weg kann, aber als Einzelner glaube, nicht dagegen kämpfen zu vermögen und tot stellen nicht funktioniert, bleibt der Stress und hält mich auf Trab. Auf Trab, sich abzulenken und bloss nichts an der derzeitigen Situation zu ändern, könnte ja noch schlimmer werden. Nein, das soll nicht auf eine Verschwörung hinweisen. Aber es ist für die dafür Verantwortlichen ziemlich bequem. Bequemer, als mit guten Ideen und Utopien einen Ruck für positive Veränderungen zu erzeugen.

Da ich also alle diese sozialisierten Ängste gefühlsmässig nicht adäquat bearbeiten kann, wurde eine lange Sorgenkette daraus. Und was habe ich gelernt, wie ich dieser begegnen kann? Erst mal in Teilsorgen zerlegen und eine nach der anderen abarbeiten und beseitigen. Und dabei immer mit dem Schlimmsten rechnen, dann ist das Loch, in das ich fallen kann, weniger tief. Mein Mindset ändern, das beste daraus machen, Licht am Ende des Tunnels sehen. Dinge verändern, die ich verändern kann, die anderen radikal akzeptieren. Blöderweise bringen Lebenserfahrung und Worst-Case-Szenarien immer neue Sorgen oder Ängste hervor, denn unser Gehirn speichert Angst und Gefahr im Vordergrund ab. Das war ein guter Weg in meine mittelschwere Depression.

Gut, dass mir jetzt der Tipp des Psychologen einleuchtet: lass´doch mal die Angst richtig zu. Lass´ sie Dir mal so richtig Stress bereiten und wenn Du bewusst und unbewusst merkst, dass Dein Leben nicht unmittelbar bedroht ist, flaut der Stress wieder ab und Deine Gedanken werden klar. Ich fange gleich damit an: wo liegt noch mal der letzte Rentenbescheid?

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