Mein Jahrmarkt der Sorgen

Dasletztedrittel/ August 30, 2023/ Das letzte Drittel/ 0Kommentare

Oft liege ich nachts wach, die Gedanken fahren Karussell. Ein Gedanke ergibt den anderen und irgendwann fängt alles wieder von vorne an. Es geht auf und ab, links und rechts, kein Wunder, dass es manchmal Grübelkarussell genannt wird. Es ist ja nicht mein Intellekt, der jetzt unbedingt über dies und das nachdenken will, im Gegenteil, das poppt in mir in dem Moment hoch, in dem die äusseren Reize minimiert werden. Bis auf die Grübelverstärker: die nervtötenden Geräusche der Autobahn, der Stadt, der Strassen, Schnarchen, Nachbarn – sucht es Euch aus.

Zum Grübeln bringen mich meine Sorgen und Ängste, meine Gefühle, die ich nicht so einfach abstellen kann. Sie sind einfach da. Im Laufe der Jahre entstand nicht nur ein Karussell, sondern ein kompletter Jahrmarkt. Mein Jahrmarkt der Sorgen und Ängste. Und der Wut!

In ganz jungen Jahren war es die Angst, meine Eltern mit den Geschwistern teilen zu müssen. Die Sorge um Zurückweisung. Ich war lange der Held im Erdbeerfeld und plötzlich hatte der Prinz Nebenbuhler*innen. Ich kann mich selbst nicht mehr daran erinnern, es entlud sich wohl in Zorn und Wut. Später in der Schule bis etwa zur 7. Klasse war ich richtig gut. Was meine Motivation war, weiss ich nicht mehr. Ob die Angst vor sozialem Abstieg, die meine Eltern ständig predigten oder ob ich gefallen wollte oder es einfach so lief, ich kann und will es eigentlich auch nicht nachvollziehen. Je schlechter ich dann in der Schule wurde, desto eher wurde Druck durch Angstmache das Mittel, das Lehrer und Eltern wählten. Ich bewältigte das durch tot stellen oder Flucht. Studium war das gleiche Spiel, nur auf höherem Niveau, der Einsatz für das Spiel des Lebens wurde höher. Die Hörsäle waren überfüllt, es gab festgelegte prozentuale Durchfallquoten bei Klausuren. Druckmittel? Sozialer Abstieg, Ihr erinnert Euch?

Und es wirkte. Ich wollte aus pekuniären Gründen etwas werden, was ich nicht werden wollte. Ging ich durch die Sozialwohnungssiedlung, hatte ich Sorge, irgendwann hier zu landen. Ich hatte Sorge, mir mein Motorrad nicht mehr leisten zu können, nicht den Sprit, nicht die Kurzurlaube. War finanziell eher unbegründet, gut bezahlte Aushilfsjobs für eingeschriebene Studenten gab es damals noch. Doch wieder fiel ich mein altes Muster der Angstbewältigung: Flucht oder tot stellen. Das Angstgefühl ging, die Sorgen blieben und fuhren Karussell. Und das Karussell brachte keine Lösung.

Letztendlich war es der Staat, der eine nicht ganz unfreiwillige Lösung fand. Die nicht ganz unberechtigte Angst vor dem Ostblock und anderer Schurkenstaaten zwang junge Männer in den Staatsdienst. Waffe ging gar nicht, also Zivildienst. Ich entschied mich fürs Leben retten auf dem Notarztwagen. Als Sani. Es war die Erfüllung, ich war gut und konnte die psychisch belastenden Erlebnisse gut wegstecken. Und da ich später damit meine Brötchen verdiente und gute Arbeitszeiten hatte, war die berufliche Sorge erst mal weg. Privat lief auch recht gut, aus Freundin wurde Frau mit Höhen und vielen Tiefen. Geteilte Sorgen sind manchmal doppelte Sorgen, aber mein Beitrag war gar nicht so groß, wie ich heute feststellen muss.

Dann Kinder. Und der Spruch: „kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen“ sollte sich bewahrheiten. In meinem Job kamen jetzt aber echte Ängste dazu, die auch meine Arbeit beeinträchtigten: die Angst vor einer Infektion, die ich an die Kinder weitergeben könnte sowie die Angst vor einem beruflich bedingtem Schaden, der mich den Job kosten könnte = sozialer Abstieg. Das raubte mir oft den Schlaf. Ich liebte meinen gelernten Job, machte dann aber Jobs, die ich nur der Sicherheit und des schnöden Mammons willen machte. Wenn sich ein besserer Verdienst bot, Zack, Wechsel. Bessere Arbeitsbedingungen, Wechsel. Manchmal nicht ganz freiwillig, aber irgendwie funktionierte es. Meine damalige Frau, die Mutter der Kinder, wuppte viel zu Hause, wir konnten uns ein paar Dinge leisten, die Kinder waren gut ausgestattet, alles war irgendwo zwischen „Läuft!“ und „Muss!“. Ich wähnte mich glücklich, die Sorgen und Ängste kreisten um die Kinder und schienen normal und bewältigbar. Warum bloss kam dann die Wut wieder zurück? Ja, das unbestimmte Gefühl der Sorgen und Ängste entlud sich oft in lautstarkem Streit. Das Gedankenkarrussell bracht mir keine Antworten und Grübeln brachte noch mehr Wut. Holla, ich machte, was ich nicht wollte und wurde, wer ich nicht sein wollte.

Eine Scheidung in Wut ist schlimm, besonders, wenn Kinder im Spiel sind. Ich überschätzte meine Kinder und unterschätzte mein Ex-Frau. Diesen Rattenschwanz an Ängsten will ich aber hier nicht ausbreiten. Nur so viel: es ging nicht um sozialen Abstieg, diesmal nicht.

Das Leben wurde komplexer. Patchworken ist kein Selbstläufer und kann, wenn ein(e) Beteiligte(r) falsch spielt, sehr schwer werden. Da gesellen sich echte Verlustängste zum Jahrmarkt hinzu. Die Angst, dass ich die Kinder, die langsam dem Teenageralter entwuchsen, nicht mehr sehen würde. Wut kann hier zu Hass werden, das nagt und frisst im Inneren. Zum Glück sind das auch Gefühle und die bleiben nicht ständig. Wäre körperlich auch zu anstrengend. Denn das ist Stress pur für den Körper, Urzeitverhalten.

Und jetzt kommen Erfahrung und Antrainiertes ins Spiel. Im den vielen Firmen, in denen ich war, gab es immer mal wieder Trainings zu Zeitmanagement und Stressbewältigung. Natürlich immer unter der Prämisse der Produktivitätssteigerung und geringer Ausfallzeiten. Prima, dachte ich, da lässt sich doch so manches aufs Leben anwenden. Zerlegung in Teilprobleme und diese lösen. Sichtweisen ändern. Keine Aufschübe dulden. Über Teilerfolge freuen. Nur Dinge bearbeiten, die Du ändern kannst. Habe immer Plan B. Und dazu noch C. Das volle Programm. Leider führen auch Dinge, die ich nicht ändern kann, zu Ängsten und Sorgen. Verlust, Geldnöte, Altersarmut, Krankheit, Tod. Besonders dann, wenn sie zusätzlich noch Dritte betreffen. Alle Massnahmen funktionieren im Alltag ganz gut, vieles kann verdrängt werden, gammelt aber im Unbewussten weiter vor sich hin. Der Jahrmarkt der Sorgen wurde grösser, je mehr Lebenserfahrung ich bekam.

Sachen, die mir jahrzehntelang egal oder selbstverständlich waren, wurden präsent. Der Chef hat mich schief angeguckt, werde ich meinen Job los? Wie sehe ich aus, wie wirke ich auf andere? Bin ich gut genug für die Tätigkeit? Hat mein Gegenüber auch das verstanden, was ich meinte? War das jetzt mein Fehler? Bin und bleibe ich gesund? Was passiert, wenn……..? Zusammengefasst: je älter ich werde, desto eher weiss oder glaube ich, was schief gehen kann. Vor allem glaube ich es. Fatal!

Und guess what: Quantität zählt. Da ich viel befürchtete, traf natürlich auch so manches ein. Und mein Gehirn weigerte sich, die Dinge wahrzunehmen, die nicht eintrafen. Ist auch so ein Urzeitding, denn es ging damals ums Überleben. Gute Dinge machen leichtsinnig.

Ich beobachtete an mir aber noch einen Effekt: das, von dem ich wusste, dass es nicht gut für mich ist, blendete ich aus. Schlechte Essgewohnheiten, besonders im Zusammenhang mit Stressbewältigung. Tatsächliche Arbeitsbelastung, die diesen Stress verursacht. Nachrichten. Denn hier hatte ich ja meine antrainierten, vermeintlich erfolgreiche Strategien. Ein bisschen Sport, kleine Fluchten, Mindset ändern………. ja ja. Doch das Karussell dreht sich weiter.

Lange Rede, kurzer Sinn: das alles funktioniert nicht, ich muss was tun. Und ich tat es!

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